Mittwoch, 28. Oktober 2015

Eine Geschichte über das Alleinsein und große Pläne

Wenn ich anderen Leuten von meiner Masterarbeit erzähle, ist die häufigste Reaktion so in etwa:

"Bist Du irre? Warum machst Du das?! Das ist ja 'ne Doktorarbeit!!! Hätte das nichts Einfacheres sein können?".

Jaaaa.... Hätte es. Aber das wäre mir zu langweilig: Ich liebe Herausforderungen!

Davon habe ich eigentlich genug. Seit etwas mehr als fünf Jahren bin ich alleinerziehend. Das läuft  allerdings (ausnahmsweise) nicht unter "Habe ich mir ausgesucht, weil mir alles andere zu langweilig wäre!" - nein, das war nun wirklich nicht geplant.

Relativ spät hatte ich im Herbst 2007 mein Studium aufgenommen. Der Entschluss dazu rührte daher, dass ich nach dem frühen Tod meines Vater verstand, dass das Leben zu kurz ist, um nicht wenigstens zu versuchen, meinen Traum zu verwirklichen - und dabei auch ein gewisses Risiko und Unannehmlichkeiten (vor allem finanzieller Natur) in Kauf zu nehmen.

Also begann ich das lang ersehnte Psychologiestudium (Ja, ich hätte mir vielleicht vorher überlegen sollen, in welchen Fächern ich das Abi schreibe. Am Ende hatte ich zwar das große Latinum, aber einen Schnitt, der nach "Wartesemster bis zur Rente" aussah... daher auch die "kleine" Verspätung). Ein paar Monate davor hatte ich mich neu verliebt und der Himmel hing voller Geigen.

Im Juni 2008 hielt ich dann einen positiven Schwangerschaftstest in der Hand.

Die existentielle Veränderung Mutter zu werden bedeutet glaube ich für jede Frau einen komplett neuen Anfang. Bei mir war im "Lieferumfang" ein völlig neues, mir absolut nicht vertrautes Betriebssystem enthalten -  ein "Dual Cor" (pun intended, das -e habe ich nicht verbummelt) -Prozessor brauchte Sonja 2.0. Wenn ich heute überlege, was mich als Person ausmacht, waren diese sechs Jahre wohl die prägendsten. Auch wenn ich durchaus aus meiner "ersten" Biografie, in der ich mit massiven Erschütterungen zurecht kommen musste, viele Lernerfahrungen mitgenommen hatte.

Sobald ich schwanger war, ging alles verdammt schnell:

Im August 2008 Umzug in eine größere Wohnung,
Eheschließung im Dezember,
Söhnchens Geburt im Februar 2009 (pünktlich zur Wirtschaftskrise),
im August Umzug in eine kleinere Wohnung mit Garten -
und im Mai 2010 die bittere Erkenntnis, dass meine Ehe eigentlich überhaupt keine Basis hatte.

Ein paar Monate versuchten wir es, aber im Grunde war es eine total hoffnungslose Sache - und im Oktober 2010 zog ich mit dem Kleinkind aus. Zu dem Zeitpunkt war ich auch nach anderthalb Jahren Pause wieder richtig ins Studium eingestiegen.

Es folgten vier Jahre, die ich "Exil" nenne. Die räumliche Nähe von Universität, Kinderkrippe und meiner Wohnung war essentiell, was mich auch aus finanziellen Gründen in ein Wohnviertel beförderte, wo ich völlig abgeschnitten zum Rest meiner Welt mit meinem Kleinen in einem Plattenbau mit 22 Etagen lebte. Hier stiegen die Leute mit Kippe in der Hand aus dem Aufzug aus, die Grünfläche um das Gebäude war eigentlich ein riesiger Aschenbecher und überall lagen Hundekacke, Plastikmüll und zerbrochene Glasflaschen herum. Die Wohnung war zwar schön geschnitten, aber die Fenster gingen bis auf eines nicht mehr auf und die Küche fiel auseinander. Sozialromantik, dachte ich mir - auch gut. Muss man auch mal erlebt haben.

In meinem Exil gehörte ich irgendwie nirgendwo richtig dazu - mit meinen Kommilitionen hatte ich wenig gemeinsam. Zehn Jahre Altersunterschied sind dabei nicht das größte Problem. Viel schwieriger ist es, einen Draht zu und Gemeinsamkeiten mit Leuten zu finden, die im Grunde noch Kinder sind, während man selbst ein Kind hat.

Außerdem war ich anfangs einfach erst einmal grundsätzlich angepisst, wenn jemand weniger Probleme hatte, als ich. Das ging ja gar nicht!

Und in der Gruppe der Eltern (in der Krippe, im Kindergarten) war ich - tatsächlich - immer die einzige Alleinerziehende. Und auch das ist ein Unterschied, den man nicht unterschätzen sollte. Paare machen etwas mit Paaren. Elternpaare machen kaum etwas mit Alleinerziehenden. An den Wochenenden wollen alle etwas mit der Familie unternehmen und nicht viele haben Lust darauf, sich mit einer Alleinerziehenden zusammenzusetzen, die frustriert, gestresst und gereizt ist und echt übel aussieht. Das gilt natürlich nicht für Paare, die man schon lange kennt und mit denen man lang befreundet ist - aber die waren bei mir ja in einer anderen Stadt, eine Stunde Fahrzeit mit den Öffis und jeweils über 8 Euro fürs Ticket entfernt.

In diesen vier Jahren gab es eigentlich nur zwei Dinge: Meinen Sohn und mein Studium. Der Junge war glücklicherweise immer in guten Einrichtungen untergebracht - zunächst in einer studentischen Kinderkrippe, wo man sich sehr liebevoll um ihn kümmerte - und später in einem Montessori-Kindergarten, den er heute noch vermisst, weil er in dieser kleinen Welt einfach total gut aufgehoben war.

Aber ich ging auf dem Zahnfleisch.

Ich hatte ständig Schmerzen und teilweise das Gefühl, nicht mal mehr die Kraft zum Sprechen zu haben. Teilweise ging mir tatsächlich auch meine Stimme flöten - los ging es im Winter 2011, da bekam ich dann Cortison und Sprechverbot. Sprechverbot! Mit einem zweieinhalbjährigen Kind!
Im Jahr 2012 musste ich nach einem beunruhigenden Krebsvorsorgebefund unters Messer und ab da wurde meine Verfassung immer schlechter. Nachts heulte ich in mein Kissen und war nur noch erschöpft. Den Winter darauf war ich fast drei Wochen am Stück auf Antibiose, weil mein Körper nicht mehr die Kraft hatte, die Streptokokkeninfektion, die mein Sohn aus dem Kindergarten mitbrachte, abzuwehren. Und mein Hormonsystem ist dann mal so richtig ausgestiegen.

Ich hatte das riesige Glück, dass das kleine bisschen Verwandtschaft, das ich habe - meine Mutter, mittlerweile 72 Jahre alt, meine Cousine und ihr Mann - mich nach Kräften unterstützten und nach wie vor immer hilfsbereit sind. Wenn ich jemanden brauchte, der wegen einer späten Lehrveranstaltung den Jungen aus der Betreuung abholte, hatte ich immer jemanden. Und die Zeit arbeitet ja für einen: Ab einem gewissen Alter konnte der Kleine auch mal übers Wochenende zu seiner geliebten Omi und ich hatte Zeit für mich. Ab und an kümmert sich auch der Papa, der uns ansonsten dankens- und anerkennenswerter Weise finanziell weit über seine Verpflichtungen hinaus unterstützt.

Die Zeit ohne Sohn nutzte ich allerdings nicht, um mich zu erholen, sondern butterte alle Energie in mein Studium, in Klausurvorbereitung, Referate, Hausarbeiten und 2013 meine Bachelorarbeit.

Danach war ich so fertig, dass meine Krankenkasse meinen Antrag auf Kur nicht einmal eine Woche, nachdem ich ihn eingereicht hatte, genehmigte. Im September 2013 ging es auf Mutter-Kind-Kur in Richtung Sylt, wo mich dann die Zusage für meinen Masterplatz -  Semesterbeginn: Oktober 2013 - erreichte. Mit einem Schnitt von 1,7 im Bachelor war ich gerade noch so mit hineingerutscht.

Im August 2014 zog ich mit meinem Sohn wieder zurück in meine Heimatstadt - er war groß genug, dass ich ruhigen Gewissens auch pendeln konnte und mein Netzwerk hatte sich super etabliert.

Dass es mir hier besser gehen würde, war mir schon klar gewesen - wie sehr, das kann ich heute beurteilen. Ich hatte seit meinem Umzug vor knapp 15 Monaten nur einmal einen Infekt, der mich zum Arzt führte. Mein Schmerztablettenkonsum hat sich auf "gelegentlich" eingependelt, weil meine Verspannungen wesentlich besser wurden und ich bin zwar immer noch nicht der kontaktfreudigste Mensch (als jemand, der von seinem 19. bis zum 30. Lebensjahr allein gelebt hat, zähle ich wohl zu dem, was man als "Eigenbrötler" bezeichnet), aber die Menschen, die mir etwas bedeuten, sehe ich regelmäßig und habe mehrmals die Woche abends Besuch von lieben Freunden.

Ich bin wieder offener geworden, im Kontakt mit mir selbst und habe meine Gefühle im Blick. Ich gehe meistens gut gelaunt durch die Welt, gebe regelmäßig was ab an Leute, die weniger haben und nehme den Fuß vom Gas. Ich habe Pläne, Visionen und kann mich selbst mit Humor nehmen (und meinen Sohn - eine Strategie, die Leben rettet...). Und ich bin platt, was ich alles geschafft habe - damit meine ich nicht mein Studium, sondern meine persönliche Entwicklung.

Das Studium ist nun in seiner letzten und spannendsten Phase. Ich habe mich entschlossen, eine der Fragen, die mich selbst als Alleinerziehende bewegt haben, zum Thema meiner Masterarbeit zu machen. Was für ein Luxus! Ein eigenes Anliegen, eine Frage, die mich ganz persönlich und privat interessiert, mit wissenschaftlichen Mitteln zu beantworten - für mich ein Traum!

Gestern Abend hatte ich ein spannendes und für mich äußerst fruchtbares Gespräch mit Dr. Alexandra Widmer (www.starkundalleinerziehend.de), die ich kontaktierte, weil ich Sie gerne um Unterstützung bei der Rekrutierung meiner Stichprobe bitten wollte. Dabei wurde mir auch klar, dass meine persönliche Geschichte hier eine wichtige Rolle spielt - und ich als Person.

So kam mir die Idee mit dem Blog - die Idee, mich in dieser Phase mitzuteilen, diese anstrengende, letzte Phase im Studium (vor der Doktorarbeit, das wäre der nächste Schritt) - je nachdem, wie meine Zeit es zulässt - zu dokumentieren und meinen Alltag, meine Gedanken, Hochs und Tiefs mit anderen zu teilen, die so eine Art von "Krimi" vielleicht interessiert.

Ein weiteres Anliegen ist, auf diesem Weg andere Alleinerziehende zu erreichen, um mich bei meiner Masterarbeit zu unterstützen und meine Befragung mitzumachen. Zu dieser werde ich gleich im nächsten Beitrag etwas schreiben: "Das Projekt".







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